Abschied vom Malthusianismus: Ernährung für alle

Der folgende Text ist zweite und letzte Teil der Serie über den Malthusianismus. Der erste erklärte den Begriff und die Geschichte des Malthusianismus. Obwohl der 222 Jahre alte Malthusianismus widerlegt wurde, geht sein Gespenst in Diskussionen über das Bevölkerungswachstum, Ernährung und Umweltprobleme immer noch um. Malthusianische Argumente haben zum Leiden von Millionen Menschen beigetragen. Deswegen lege ich in diesem Teil eine Alternative zum Malthusianismus vor, in der ich anhand aktueller Forschung einen Weg zeige, wie sich alle Menschen innerhalb ökologischer Grenzen gut und gesund ernähren könnten.

Inhalt

Menschliche und planetare Bedürfnisse: ein Widerspruch?

Thomas Malthus und seine Nachfolger*innen gingen davon aus, dass die menschlichen Bedürfnisse die ökologischen Kapazitäten der Erde überfordern. Um die Natur – die Lebensgrundlage der Menschen – zu schützen, müsse man deswegen großes menschliches Leid in Kauf nehmen.

Ich stimme mit dem Malthusianismus überein, dass wir in den letzten Jahrzehnten Raubbau an unserem Planeten betrieben haben. Allerdings verorte ich die Ursache in einem wirtschaftlichen und politischen System, das die Umwelt zerstört. Obwohl dieses System den Wohlstand insgesamt erhöht hat, berücksichtigt es zudem die Bedürfnisse vieler Menschen nicht: Es nimmt – wie der Malthusianismus – ihr Leiden hin.

Es gibt allerdings sowohl zum Malthusianismus als auch zum Weitermachen wie bisher Alternativen. In den letzten Jahren haben Gruppen aus Natur- und Sozialwissenschaftler*innen erforscht, dass sich ökologische Nachhaltigkeit und die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse bestens ergänzen können. Dies erfordert allerdings eine grundlegende Transformation der Systems.

Am Beispiel der Ernährung möchte ich dies zeigen. Aus folgenden Gründen: Erstens ist das Ernährungssystem einer der wichtigsten Treiber globaler Umweltveränderungen; in Bereichen wie dem Artensterben sogar der bedeutendste. Zweitens liegt seine Bedeutung für die Verwirklichung menschlicher Bedürfnisse auf der Hand. Drittens war es Malthus‘ ursprüngliche Behauptung, dass durch den angenommenen Gegensatz von Natur und Mensch ein Teil der Menschheit immer Hunger leiden müsse. Wenn es Wege gäbe, sogar auf lange Sicht und nachhaltig die Ernährung aller Menschen zu sichern, wäre dies eine starke Widerlegung des Malthusianismus.

Die bloße Möglichkeit eines nachhaltigen Ernährungssystems bedingt aber nicht seine Realisierung. Die Beharrungskräfte des Systems werden sich massiv gegen solche Veränderungen wehren. Gleichzeitig kann man nicht allein aus der Wissenschaft begründen, warum ein anderes Ernährungssystem notwendig ist. Werturteile, ethische und politische Erwägungen tragen zur Begründung bei, was die Forschung auch offenlegt. Letztlich muss die Gesellschaft entscheiden, welche der folgenden vorgeschlagenen Pfade sie umsetzen will.

Menschliche Bedürfnisse und das Ernährungssystem

Obwohl – entgegen malthusianischer Vorhersagen – genug Lebensmittel hergestellt werden um alle Menschen ernähren zu können, haben immer noch 820 Millionen nicht genug zu essen. Gleichzeitig hat das Ernährungssystem neue gesundheitliche Probleme geschaffen: Inzwischen leiden über zwei Milliarden Menschen an Übergewicht. Der Weltbiodiversitätsrat fasst die Unvernunft dieses Systems in einem Satz zusammen: „[A]lthough food production today is sufficient to satisfy global needs, approximately 11 per cent of the world’s population is undernourished, and diet-related disease drives 20 per cent of premature mortality, related both to undernourishment and to obesity.“1

Ungefähr vier Millionen Menschen sterben weltweit jedes Jahr an den Folgen von Übergewicht. Dabei ist Übergewicht nicht mal der wichtigste Faktor bei verlorenen Lebensjahren: Ungefähr dreimal so viele Lebensjahre gehen durch die Unterernährung von Kindern und Müttern verloren. Fehlernährung ist deswegen in reichen wie armen Ländern der bedeutendste Grund für verlorene Lebensjahre: In reichen Ländern dominieren Übergewicht und ungesunde Ernährung, während in armen Ländern Unterernährung die Hauptursache verlorener Lebensjahre ist.2

Diese Erkenntnisse legen nahe, dass das gegenwärtige Ernährungssystem die Bedürfnisse vieler Menschen nicht erfüllt. Trotzdem stellt sich die Frage, was mit menschlichen Bedürfnissen human needs eigentlich gemeint ist. Wissenschaftler*innen, die dazu forschen, gehen davon aus, dass alle Menschen bestimmte Grundbedürfnisse haben. Wenn diese nicht erfüllt sind, entstehen individuelles Leiden und soziale Übel. Deswegen muss eine Gesellschaft die needs aller ihrer Mitglieder berücksichtigen, wenn sie Entscheidungen trifft.

Es gibt zwar unterschiedliche Zugänge in der Frage, wie man die grundlegenden Bedürfnisse bestimmen kann. Dennoch ähneln sich die Zugänge in ihrer Einschätzung, aus welchen Bestandteilen diese Bedürfnisse zusammengesetzt sind3: Sie umfassen unter anderem eine angemessene Gesundheitsversorgung, gesunde Ernährung und Bildung. Auch enthalten sie soziale, politische und bürgerliche Rechte. Durch diese Elemente, so nimmt die Forschung an, können Menschen erstens ihre Fähigkeiten entfalten. Zweitens bieten sie Schutz, wenn die Entfaltungsmöglichkeiten zum Beispiel durch Krankheit eingeschränkt sind.

Das momentane Ernährungssystem schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten offensichtlich ein, weil es Krankheit und Tod hervorbringt. Unterernährung in der Kindheit prägt häufig das ganze Leben. Die Medizin sieht Adipositas heute als schwerwiegende Krankheit an, die oft chronisch verläuft und schwer zu behandeln ist.4

Menschliche Grundbedürfnisse zeichnen sich durch einige Eigenschaften aus5: Erstens sind sie objektiver Natur. Menschen müssen essen und trinken. Schlechte oder unzureichende Ernährung beeinträchtigt die Gesundheit.

Wenn die Grundbedürfnisse zweitens erfüllt sind, stiftet ein Mehr an Gütern nur noch begrenzten oder gar keinen zusätzlichen individuellen Nutzen. Ein Überkonsum bestimmter Güter zieht nachteilige Effekte wie Umweltzerstörung nach sich, was die Verwirklichungschancen anderer und zukünftiger Generationen beeinträchtigt. Im Falle der Ernährung führt übermäßiger Konsum sogar zu eigenen gesundheitlichen Problemen. Needs stehen zudem über wants, bloßen Wünschen: Es ist viel wichtiger, das Bedürfnis einer angemessenen Ernährung als den Wunsch nach dem Besuch teurer Restaurants zu erfüllen.

Drittens sind needs mehrdimensional: Bildung und Ernährung lassen sich zum Beispiel nicht untereinander austauschen. Beide tragen auf ihre Weise dazu bei, dass Personen sich gesund erhalten und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Diese Art, die menschlichen Bedürfnisse zu erforschen, unterscheidet sich vom orthodoxen ökonomischen Zugang. Er betrachtet das Einkommen als die wichtigste Größe und nimmt an, dass alle Güter miteinander austauschbar sind. Zwischen needs und wants unterscheidet er nicht klar – eine problematische ethische Entscheidung. Weiterhin nimmt er an, dass „Naturkapital“ immer durch andere Kapitalarten ersetzt werden kann – eine falsche Annahme, wie die Naturwissenschaften zeigen.6

Auch unterscheidet sich das Konzept menschlicher Bedürfnisse vom subjektiven Wohlbefinden. Das Problem dieser Glücksforschung besteht darin, dass ihre vielfältigen und widersprüchlichen Ergebnisse mit problematischen Methoden zu Stande kommen.7,8

Durch die Probleme der beiden anderen Zugänge konzentriert sich die Forschung, die sich mit der Frage einer nachhaltigen und gesunden Ernährung für bald acht Milliarden Menschen beschäftigt, auf human needs. Welche ökologischen Probleme das Ernährungssystem gegenwärtig hervorruft und wie es dadurch die needs zukünftiger Generationen gefährdet, klärt das folgende Kapitel.

Planetare Grenzen und Ernährung

Seit 1950 stört die Menschheit das Erdsystem immer stärker. Die Forschung nennt diesen Prozess die Große Beschleunigung.9 Dadurch kommt es zum Überschreiten planetarer Grenzen, die das Erdsystem aus dem Holozän heraus in unbekanntes Terrain führt. Im Holozän entstand die menschliche Zivilisation. Wenn sich die Große Beschleunigung wie bisher fortsetzt, könnte die Erde für die Menschen deutlich unwirtlicher werden.10 Die Landwirtschaft und das Ernährungssystem tragen zur Großen Beschleunigung auf viele Arten maßgeblich bei.

Klimawandel

Die Landwirtschaft stößt 15-23 Prozent aller Treibhausgasemissionen aus. Wenn man das Ernährungssystem als Ganzes betrachtet, kann dieser Wert je nach Schätzung bis auf 29 Prozent ansteigen.11 Es trägt zum Klimawandel nicht nur durch seine CO2-Emissionen bei: Die Lebensmittelproduktion ist die Hauptursache für die Emission von Methan (CH4) und Lachgas (N2O).

Mit dem Klimawandel geht eine Reihe von Gesundheitsgefahren einher, die besonders Menschen in ärmeren Ländern, Kranke, Kinder und Ältere betreffen12: Naturkatastrophen, Hitzewellen, Dürreperioden und andere Extremwetterereignisse werden ein zunehmendes Problem für die Gesundheit und das Wohlbefinden darstellen. Mit der globalen Erwärmung steigt auch das Infektionsrisiko für bestimmte übertragbare Krankheiten.

Durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern und Biomasse, aber auch durch Ackerbau und Viehzucht selbst, entsteht Luftverschmutzung. Aufgrund Luftverschmutzung sterben derzeit jährlich ungefähr sieben Millionen Menschen vorzeitig.

Schließlich wird ein Fortschreiten des Klimawandels die Ernährungssicherheit bestimmter Gruppen gefährden. Ein Beispiel: Für viele – vor allem ärmere – Menschen ist Fisch eine wichtige Protein- und Omega-3-Quelle. Die Erwärmung und Versauerung der Meere bedroht diese Fischbestände.

Zusammen führen diese Faktoren laut dem Lancet Countdown dazu, dass der Klimawandel die Gesundheit heute geborener Kinder prägen wird, wenn keine entschiedene Klimapolitik betrieben wird. Eine entschiedene Klimapolitik beinhaltet das Halten der Erwärmung unter 2 Grad und eine Anpassung an die trotzdem zu erwartenden Effekte des Klimawandels.

Artensterben und Landnutzungsänderungen

Die Menschheit nutzt inzwischen ungefähr 40 Prozent der eisfreien Landmasse für die Landwirtschaft. Sie beutet die Natur und ihre Organismen übermäßig aus, um Nahrung herzustellen. Die Landwirtschaft zerstört und zerschneidet dadurch Naturräume, wodurch sie die Hauptursache für das Artensterben ist. Dieses Sterben bezeichnen einige schon jetzt als das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte.13,14

Das Artensterben ist eine Tragödie. Massensterben kommen ungefähr im Rhythmus von 100 Millionen Jahren vor. Erst seit den 1950er Jahren – dem Startpunkt der Großen Beschleunigung – wissen wir um den Aufbau der DNA. Seitdem zerstören wir die genetische Vielfalt mit hoher Geschwindigkeit.

Dieser Naturverlust wird sich auch auf die Produktion von Lebensmitteln auswirken, weil sie auf die Dienstleistungen der Natur angewiesen ist15: Dazu gehören zum Beispiel die Bestäubung der Pflanzen durch Insekten, Schädlingsbekämpfung, der Nährwert von Lebensmitteln oder die Verfügbarkeit sauberen Wassers.

Stickstoff, Phosphor und Wasser

Die Landwirtschaft wird auch in Zukunft auf Stickstoff- und Phosphordünger angewiesen sein, um die Weltbevölkerung ernähren zu können. Eine übermäßige Anwendung von Dünger, wie sie entwickelten Ländern stattfindet, hat allerdings vielfältige negative Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit16: Überdüngung führt etwa zu Luftverschmutzung oder Nährstoffanreicherung in Gewässern, wodurch sauerstofffreie Zonen – so genannte „Todeszonen“ – entstehen können.

Zudem könnten die Phosphorvorräte bei einem Weitermachen wie bisher in 50 bis 100 Jahren erschöpft sein.17 Dies bedroht die Ernährungssicherheit zukünftiger Generationen.

70 Prozent der globalen Wasserentnahmen dienen der Bewässerung. Im Gegensatz zu Phosphor, Stickstoff und dem Artensterben bewegt sich der aktuelle Wasserverbrauch zwar unterhalb seiner planetaren Grenze. Dennoch belastet auch der Wasserkonsum die Umwelt. Ein größeres Problem für das menschliche Wohlbefinden ist jedoch, dass einzelne Regionen schon heute unter Wasserknappheit leiden. Deswegen sind sie auf Lebensmittelimporte angewiesen.18

Ein anderes Ernährungssystem ist möglich

Eine Ernährung für die Menschen und den Planeten

In den letzten Jahren haben Studien übereinstimmend ergeben, dass eine gesunde Ernährung auch der Gesundheit des Planeten zuträglich ist.19 Damit meinen Forscher*innen eine pflanzenbasierte Diät, die besonders in Industrieländern den Verzehr tierischer Produkte – vor allem von rotem Fleisch – vermindern würde.

Eine Kommission der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet nahm sich 2019 der Frage an, wie ein ökologisches Ernährungssystem im Jahre 2050 aussehen könnte.20 Die Bedingung war, dass es die gesunde Ernährung von 10 Milliarden Menschen sicherstellt. Dies würde jedes Jahr das Leben von Millionen Menschen retten.

Unter einer gesunden Ernährung versteht die Kommission einen Speiseplan, der hauptsächlich aus Gemüse, Früchten, Hülsenfrüchten, Vollkornprodukten, Nüssen und Ölen mit einem hohen Anteil ungesättigter Fettsäuren besteht. Ihre Referenzdiät – die planetary health diet – enthält auch geringe bis moderate Mengen tierischer Produkte: vorwiegend Milchprodukte, Fisch und Geflügel, aber kaum rotes Fleisch. Darüber hinaus berücksichtigte die Kommission auch vegetarische und vegane Varianten der planetary health diet.

Die Kommission verglich die Umweltfolgen der planetary health diet mit einer Ernährung im Jahr 2050, die einem Weitermachen wie bisher entspricht. Dazu schätzte sie anhand gegenwärtiger Ernährungstrends, wie sich die Welternährung in den nächsten Jahrzehnten ohne ein Umsteuern entwickeln würde.

Neben dem Speiseplan der Zukunft untersuchte die Kommission, welche Folgen eine nachhaltigere Organisation unseres Ernährungssystems gegenüber einem Weitermachen wie bisher hätte. Vor allem die Nutzung nachhaltiger Technologien und die Anwendung nachhaltiger Praktiken könnten die Landwirtschaft umweltfreundlicher machen. Geringere, aber dennoch beachtliche Auswirkungen hätte eine Halbierung des Nahrungsmittelabfalls.

Abbildung 1: Treibhausgasemissionen 2050 (basiert auf21)

Ein bemerkenswerter Unterschied existiert zwischen dem Klimawandel und den anderen planetaren Grenzen: Um die Treibhausgasemissionen zu verringern, kommt es vor allem darauf an, was wir essen. Bei den verbleibenden planetaren Grenzen ist es dagegen entscheidend, wie wir Nahrung herstellen und wie viel wir davon verschwenden. Die beiden Abbildungen zeigen diesen Zusammenhang anschaulich. Stellvertretend für die vom Klimawandel verschiedenen planetaren Grenzen ist in der zweiten Abbildung die Flächennutzung durch Ackerbau aufgeführt.

Abbildung 2: Ackerfläche 2050 (basiert auf22)

Die Kommission ermittelte, dass kein zusätzliches Ackerland notwendig ist, um 10 Milliarden Menschen zu ernähren. Eine Strategie der „nachhaltigen Intensivierung“23 könnte bisherige Ertragslücken – Lücken zwischen tatsächlichen und potentiellen Ernteerträgen – schließen.

Dazu wäre es nötig, Stickstoff- und Phosphordünger effizienter zu nutzen: Die entwickelten Länder setzen überflüssigen Dünger ein, der wiederum in Entwicklungsländern fehlt. Wenn man Dünger entsprechend umverteilen und nicht mehr überdüngen würde, würden die globalen Erträge steigen. Zugleich würde das die Umwelt schonen. Aufgrund der Endlichkeit des Phosphordüngers wäre es zudem angebracht, ihn zu recyclen.

Auch beim Wasserverbrauch kommt es darauf an, die Ressource effizient einzusetzen. Wassersparende Technologien wie die Tröpfchenbewässerung, über die sich die gerade gebrauchte Wassermenge exakt einstellen lässt, können dabei helfen. Eine effizientere Nutzung von Dünger und Wasser schützt außerdem die Artenvielfalt. Noch wichtiger ist jedoch, dass landwirtschaftliche Aktivitäten nicht auf Gebiete ausgeweitet werden, in denen sonst eine hohe Artenvielfalt herrschen würde.

Allerdings kann auch die von der Kommission geforderte „radikale Transformation“ nicht erreichen, dass die Treibhausgasemissionen des Ernährungssystems auf Null fallen. Netto-Null-Emissionen sind aber erforderlich, wenn sich die Erde nicht weiter erwärmen soll. Deswegen muss im Laufe des 21. Jahrhunderts CO2 aktiv aus der Atmosphäre entfernt werden.

Die Modelle des Weltklimarates nehmen an, dass solche negativen Emissionen hauptsächlich durch BECCS (bio-energy with carbon capture and storage) und Aufforstung erreicht werden können. Für BECCS würden Energiepflanzen angebaut werden. Das bei ihrer Verbrennung entstehende CO2 müsste man in unterirdischen Lagern speichern.

Es gibt zwei Probleme mit dieser Strategie: Erstens ist nicht klar, in welchem Maßstab sich negative Emissionen überhaupt umsetzen lassen.24,25 Zweitens erfordert sie den Einsatz von Wasser, Dünger und Land. Die Bekämpfung des Klimawandels könnte dadurch die Einhaltung der anderen planetaren Grenzen gefährden. Um nicht so stark auf negative Emissionen angewiesen zu sein, macht es deswegen Sinn, die Treibhausgasemissionen des Ernährungssystems stark zu vermindern.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Das Ernährungssystem ist in das umfassendere politische und wirtschaftliche System eingebettet. Eine weitere Lancet-Kommission kam zum Ergebnis, dass es letztlich diese übergeordneten Strukturen sind, die sowohl die Gesundheits- als auch die Umweltkrise verursachen26: Sie stuft jeweils Unterernährung und Adipositas, aber auch den Klimawandel aufgrund seiner Gesundheitsfolgen als Pandemie ein. Weil die drei Pandemien gemeinsame soziale Gründe haben und miteinander wechselwirken, bezeichnet die Kommission sie zusammen als Globale Syndemie.

Die grundlegende Ursache der Syndemie sieht die Kommission in einem System, das die menschlichen Bedürfnisse nur unzureichend berücksichtigt:

[T]he structures, practices, and beliefs that underpin capitalism in its present form (ie, extractive, materialist, and neoliberal) dominate the governance system. Political economy drivers that prioritise endless growth, by default, increase consumption to the point of detrimental overconsumption. […] [W]e must collectively ask who does our food system and economy serve, and for what purpose?27

Im Ernährungssystem existiert zugleich eine Ökonomie des Überkonsums und eine des Mangels. Dabei wäre genug für alle da. Deswegen fordert die Kommission im Einklang mit der Theorie menschlicher Bedürfnisse, das System so zu verändern, dass eine gesunde Ernährung für alle Menschen gewährleistet werden kann. Um das Wohlbefinden kommender Generationen zu sichern, müssen dabei die planetaren Grenzen beachtet werden.

Am härtesten trifft die Syndemie arme Länder und arme Menschen in allen Ländern. In den Industrieländern leiden besonders Arme unter einer Umgebung, die Fettleibigkeit verursacht (obesogenic environment). Nicht nur das begrenzte finanzielle Budget und der erhöhte Stress tragen dazu bei; auch die bloße Wahrnehmung eines niedrigen Status spielt eine Rolle.28,29

Aufgrund dieser Erkenntnisse forderte ein Lancet-Editorial zum Thema: „The time to blame and stigmatise individuals and families is over. […] It is time for a conscious attack on commercial interests and a radical rethinking of the dominant economic and political models that have too little interest in equity or social justice“30 – ein Appell, der sich auch auf die Umweltprobleme und Unterernährung übertragen lässt.

Allerdings liegt auf der Hand, dass eine solche Transformation auf den erbitterten Widerstand mächtiger Wirtschaftszweige stoßen würde. Es muss auch diskutiert und ausprobiert werden, wie sie umgesetzt und ausgestaltet wird: Über einen so bedeutenden Wandel kann nur die Politik entscheiden – nicht die Wissenschaft. Dazu braucht es allerdings informierte Bürger*innen und eine Stärkung der Zivilgesellschaft und Demokratie, die sich gegen Wirtschaftsinteressen durchsetzen kann.

Das Ende einer düsteren Weltsicht

Aufgrund seiner fehlerhaften Annahmen hat der Malthusianismus seit 220 Jahren immer wieder falsche Vorhersagen gemacht. Durch technologische Innovationen können wir heute viel mehr Nahrung herstellen als früher. Dieser Fortschritt hat aber große Umweltschäden verursacht. Gleichzeitig ist das heutige Ernährungssystem weit davon entfernt, perfekt zu sein. Mit der epidemischen Verbreitung von Fettleibigkeit hat es neue Probleme geschaffen.

Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass das Bevölkerungswachstum mit sozial fortschrittlichen Maßnahmen aufgehalten werden kann. Malthusianische Zwangsmaßnahmen sind unnötig. Die Forschung der letzten Jahre konnte außerdem zeigen, dass ein umweltverträgliches Ernährungssystem, das die Bedürfnisse aller Menschen erfüllt, prinzipiell möglich wäre. Eine solches System wird aber nur möglich sein, wenn sich viele Menschen gegen mächtige Interessen für eine grundlegende gesellschaftliche Transformation einsetzen.

Die menschliche Spezies verfügt über einzigartige Fähigkeiten, mit der sie ihr Überleben sichern kann. Der Klimawissenschaftler Ken Caldeira zitierte in einem Vortrag zum Thema den bekannten Astronomen Carl Sagan31: „Our passion for learning, evident in the behavior of every toddler, is the tool for our survival.“ Die entscheidende Frage wird dabei sein, ob die Menschheit im 21. Jahrhundert lernt, sich als Hüterin der Erde zu begreifen. Sie muss in Zukunft andere und heute noch unbekannte Pfade einschlagen, um einen lebensfreundlichen Planeten für die kommenden Generationen zu erhalten.


Literatur

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