Around us only sky: Anaximander und die Wissenschaft

Wann und wo begann die Geschichte der Wissenschaft? Wann genau lebte der erste Wissenschaftler oder die erste Wissenschaftlerin? Der theoretische Physiker Carlo Rovelli hat auf diese Fragen eine Antwort1: Er bezeichnet den vorsokratischen Naturphilosophen Anaximander von Milet als ersten Wissenschaftler der Welt. Deswegen fängt für Rovelli die Wissenschaftsgeschichte im sechsten Jahrhundert vor Christus an.

Das kosmopolitische Milet

Rovelli leitet „Die Geburt der Wissenschaft“ mit einer Beschreibung des Umfelds ein, in dem Anaximander seine bahnbrechenden Ideen entwickeln konnte: Die Stadt Milet lag an der Westküste der heutigen Türkei. Im sechsten Jahrhundert war Milet ein freier Stadtstaat der griechischen Ionier. Der prosperierende Handelsort fungierte auch als wichtigste kulturelle Drehscheibe zwischen Orient und Okzident. Über Milet gelangte so die babylonische und ägyptische Mathematik und Astronomie in den Westen. Anaximanders Lehrer – Thales von Milet – hielt sich wohl zeitweilig in Ägypten auf, um dieses Wissen kennenzulernen.

In diesem kosmopolitischen Umfeld fand die ionische Aufklärung statt, zu der nach Rovellis Auffassung Anaximander die wichtigsten Beiträge lieferte: Der Philosoph mutmaßte schon vor ungefähr 2600 Jahren, dass die ersten Tiere im Wasser entstanden seien und dass sich der Mensch aus anderen Tieren entwickelt habe. Er lehnte als erster Gelehrter die Vorstellung einer scheibenförmigen Erde ab. Weiterhin nahm er an, dass der Ursprung aller Dinge das Apeiron sei. Aufgrund der Quellenlage ist nicht ganz klar, was Anaximander damit meinte, aber anscheinend schwebte ihm ein Grundstoff vor, der alles Existierende durchzieht und dessen Entwicklung bestimmt.

Revolution des Denkens

Rovelli geht es allerdings nicht darum, dass der antike Philosoph irgendwie die moderne Evolutionstheorie und andere wissenschaftliche Entdeckungen vorausgesehen hätte. Vielmehr zeigen sich – so Rovelli – in Anaximanders Denken Strukturen, die die Entwicklung der Wissenschaft vorangetrieben haben und nach denen die Wissenschaft auch heute noch arbeitet.

Imagine there’s no heaven

Nach Thales war Anaximander der zweite abendländische Gelehrte, der die Entstehung der Welt und die in ihr ablaufenden Prozesse ohne Rückgriff auf religiöse Mythen erklärte. In einer Welt ohne geoffenbarte absolute Wahrheiten liegt es an den Menschen, die Natur zu erforschen und überlieferte Lehrsätze immer wieder kritisch zu überprüfen.

Diese naturalistische Weltanschauung bereitete den Weg für die Wissenschaften, die dies auf systematische Art und Weise tun. Besonders hebt Rovelli dabei hervor, dass dieses Denken nicht nur religiöse, sondern auch politische Autoritäten in Frage stellte und so die Entwicklung erster demokratischer Strukturen beförderte.

Des Pudels Kern

Mit dem Konzept des Apeiron erreichte Anaximanders Naturphilosophie einen hohen Abstraktionsgrad, weil dieser Stoff der Alltagserfahrung nicht zugänglich ist, aber gleichzeitig die Erscheinung der sichtbaren Welt beeinflusst. Laut Rovelli öffnete Anaximander damit das Tor zur Erforschung der nicht direkt beobachtbaren Natur mittels logischen Denkens und mithilfe von Messinstrumenten.

Überdies steckt im Apeiron die Idee, dass Naturgesetze die Entwicklung des Kosmos bestimmen. Rovelli zieht deswegen eine Entwicklungslinie, die mit dem Apeiron begann und bis zu den Quantenfeldern und der gekrümmten Raumzeit der Physik des 20. Jahrhunderts reicht.

Eine weiteres Merkmal Anaximanders Apeiron vernachlässigt Rovelli aber: Der Grundstoff erklärt die Welt reduktionistisch. Gegen diese Sichtweise – ein System wird durch seine Bestandteile vollständig festgelegt – gibt es in der neueren Wissenschaftslehre allerdings Vorbehalte. Außerdem finden Reduktionen in der wissenschaftlichen Praxis nur sehr selten statt, weswegen der Reduktionismus nur schlecht abbildet, wie Forschung tatsächlich abläuft2. Rovelli stellt deswegen manchmal Anaximanders Ansichten in ein zu modernes Licht.

Vor allem beeindruckt Rovelli an Anaximander, dass sein Denken das zentrale Merkmal wissenschaftlicher Aktivität widerspiegele: Durch die Einführung neuer Konzepte und Denkweisen verändere sie regelmäßig unser Welt- und Selbstbild. Dagegen stehen in Rovellis Wissenschaftsbild ihre Instrumente wie experimentelles Testen von Hypothesen im Hintergrund, auf die die Wissenschaft zwar angewiesen sei, die aber nicht ihren eigentlichen Kern bildeten.

Am deutlichsten lässt sich diese Betonung von Wissenschaft als kognitive Aktivität erkennen, wenn Anaximander sich die Erde nicht mehr als Scheibe, die auf etwas ruht, vorstellt. Stattdessen vermutet er, dass die Erde zylinderartig ist und in etwas schwebt. Anaximander musste aber seinen Zeitgenossen erklären, warum die schwebende Erde nicht fällt. Seine brillante Lösung war es festzustellen, dass es keine ausgezeichnete Richtung gibt, in die sie fallen könnte, wohingegen Objekte nahe der Erde in Bezug auf sie herunterfallen.

Ein antiker Philosoph und die Physik des 20. Jahrhunderts

Carlo Rovellis eigenes Forschungsgebiet ist die Quantengravitation — als Beispiele für sein von Anaximander inspiriertem Wissenschaftsbild nennt er vielleicht auch deswegen die Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Tatsächlich verkörpern die Relativitätstheorien Albert Einsteins dieses Bild.

Die spezielle Relativitätstheorie

Einstein entwickelte die spezielle Relativitätstheorie (SRT), um einen Widerspruch zwischen der klassischen Mechanik und den Maxwell-Gleichungen des Elektromagnetismus aufzulösen: Das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik besagt, dass deren Gesetze in jedem Inertialsystem gelten. Mittels Umrechnungen im dreidimensionalen euklidischen Raum, so genannten Galileitransformationen, kann man von einem Inertialsystem in ein anderes wechseln.

Allerdings setzen die Maxwell-Gleichungen die Lichtgeschwindigkeit konstant. Durch die Galileitransformation der klassischen Mechanik wäre die Lichtgeschwindigkeit aber keine Konstante mehr. Stattdessen würde sie unterschiedliche Werte in verschiedenen Inertialsystemen liefern, wenn sich diese relativ zueinander bewegen.

Einstein löste diesen Widerspruch auf, indem er die Galileitransformation durch die Lorentztransformation ersetzt. Durch diese Umrechnungen in einer vierdimensionalen Raumzeit – dem so genannten Minkowski-Raum – konnte er das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik mit der konstanten Lichtgeschwindigkeit der Maxwell-Gleichungen vereinigen. Die Entdeckung dieser Raumzeit veränderte unser Bild von der Wirklichkeit radikal. Einstein öffnete das Fenster in eine Welt, in der Raum und Zeit miteinander verknüpft sind.

Leider erläutert Rovelli die SRT noch weniger ausführlich als diese Rezension. Somit erfährt die Leserin kaum, inwieweit diese Theorie unserer Weltbild revolutionierte. Der Autor hätte die Konsequenzen der Theorie auch an Beispielen wie dem Zwillingsparadoxon veranschaulichen können. Dadurch hätte der Leser die Gedankengänge besser nachvollziehen können.

Die allgemeine Relativitätstheorie

Noch sparsamer fallen Rovellis Erklärungen zu Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie (ART) aus, die die Newtonsche Gravitation und die SRT vereinte und erweiterte. Das ist schade, weil sie wohl das beste Beispiel für großes konzeptionelles Denken in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte ist. In der ART bestimmt die Krümmung der Raumzeit selbst, wie sich Materie bewegt. Diese übt wiederum einen Einfluss auf die Krümmung aus.

Im Gegensatz zur SRT, die auch von gescheiterten Experimenten einen hypothetischen Äther nachzuweisen motiviert war, spielten empirische Ergebnisse überhaupt keine Rolle für die Entwicklung der ART3. Von wenigen grundlegenden Konzepten geleitet, konnte Einstein eine revolutionäre Theorie entwickeln. Nach ihrer Veröffentlichung hat sie sich dann empirisch hervorragend bewährt.

Die Quantenmechanik

Stärker kann man sich darüber streiten, inwieweit die Quantenmechanik Rovellis Wissenschaftsbild folgt. Sie stellt zwar eine kühne konzeptuelle Veränderung gegenüber der klassischen Mechanik dar. Gleichzeitig bleibt aber bis heute unklar, wie sie unser Weltbild verändert, weil unterschiedliche Interpretationen existieren, was sie über die Wirklichkeit aussagt.

Ein wichtiger Streitpunkt ist zum Beispiel, inwieweit die quantenmechanische Wellenfunktion die Wirklichkeit beschreibt. Manche Physikerinnen sehen die Wellenfunktion nur als äußerst nützliches Hilfsmittel, um so genannte Erwartungswerte zu berechnen. Andere Interpretationen stellen einen Bezug zwischen Wellenfunktion und Wirklichkeit her. Allerdings unterscheiden sich diese Interpretationen – zum Beispiel die Bohmsche Mechanik und die Everett-Interpretation – stark darin, welchen Zusammenhang sie zwischen Wellenfunktion und Wirklichkeit annehmen.

Durch diesen Interpretationsspielraum bleibt unklar, ob die Wellenfunktion „nur“ eine instrumentelle Bedeutung hat oder ob sie die Wirklichkeit im Sinne Rovellis radikal neu beschreibt. Auch mittels Theorie und Experiment lässt sich nicht entscheiden, welche Interpretation zutrifft. Damit verschwimmt die vermeintlich eindeutige Unterscheidung zwischen Denkstrukturen und Instrumenten in der Wissenschaft.

Außerdem entstand sie aufgrund experimenteller Ergebnisse und war viel stärker als die Relativitätstheorie ein Produkt aus Versuch und Irrtum. Rovelli schreibt dies so auch an anderer Stelle4. In „Die Geburt der Wissenschaft“ konzentriert er sich dagegen auf die Dirac-Gleichung5, die die Quantenmechanik mit den Anforderungen der SRT vereinte und die Existenz von Antiteilchen vorhersagte und damit Rovellis Wissenschaftsbild am nächsten kommt.

Gibt es einen Anfang?

Rovellis eigene, zum heutigen Zeitpunkt spekulative Forschung zur Quantengravitation steht in der Tradition der großen konzeptionellen Entwürfe à la Einstein. Vielleicht auch deswegen vertritt er seine Wissenschaftsauffassung. Er hebt selbst hervor, dass in Anaximanders Denken wesentliche Elemente heutiger naturwissenschaftlicher Praxis wie das Testen von Hypothesen mittels Experimenten völlig fehlen und dass er mit seiner Wahl Anaximanders als ersten Wissenschaftler einen bestimmten Aspekt wissenschaftlicher Aktivität besonders herausstellen möchte.

Jedoch fällt ein großer Teil der Wissenschaft bescheidener aus und beschäftigt sich nicht mit dem Entwerfen großer neuer Ideen. Oft lässt sich die Wissenschaft eben doch auf ihre Instrumente reduzieren. Zum Beispiel ist es enorm wichtig Experimente zu replizieren und dabei möglichst genau und methodisch vorzugehen. Häufig geht es erstmal darum, einen Sachverhalt zu beschreiben oder empirische Regelmäßigkeiten aufzudecken, ohne gleichzeitig eine neue Theorie zu entwerfen. Wenn beispielsweise die Epidemiologie einen bestimmten Zusammenhang findet, kann diese Entdeckung potentiell die Lebensqualität unzähliger Menschen verbessern.

Mit der Vielfältigkeit wissenschaftlicher Praxis ist das Abgrenzungsproblem verbunden. Dieses Problem beschäftigt sich mit der Frage, wodurch sich die Wissenschaft von anderen Betätigungen unterscheidet. Bis heute ist unklar, ob ein solches Unterscheidungskriterium überhaupt existiert. Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen – zum Beispiel in der Politik – als der Wissenschaft bildeten sich radikal neue Denkstrukturen aus. Rovelli führt selbst aus, dass er auch deswegen Wissenschaftler geworden sei, weil er als anarchistischer Aktivist in seinen Zwanzigern gescheitert sei, die Welt zu verändern und dies nun in der Wissenschaft versuche. Deswegen eignet sich sein Wissenschaftsbild zumindest als Unterscheidungskriterium nicht.

Aufgrund dieser Probleme ist es meines Erachtens unmöglich zu bestimmen, wann die Wissenschaft begann. Die gegenwärtige vielfältige Wissenschaftspraxis zeichnet sich dadurch aus, dass sie historisch gewachsen ist. In sie sind viele Gedanken der unterschiedlichsten Menschen eingeflossen. Aus diesem Grund überzeugt mich der Ansatz, einen Beginn der Wissenschaftsgeschichte zu ermitteln, eher weniger.

Viel gelernt habe ich dagegen, wenn Rovelli die vor 2600 Jahren enorm fortschrittlichen Ideen Anaximanders schildert. Bertrand Russell drückte dies in seiner „Philosophie des Abendlandes“ wie folgt aus: „[Anaximanders] Ansichten waren […] stets wissenschaftlich und rationalistisch“6. Rovelli beschreibt Anaximanders Ideen und ihr Umfeld durch eine fesselnde Sprache. Mit einer Kostprobe dieser möchte ich schließen, weil der milesische Kosmopolitismus auch Lehren für das gegenwärtig auf Abschottung setzende Europa bereithält7:

Es ist die Konfrontation mit dem Anderen, die unseren Verstand öffnet und uns unsere Vorurteile vor Augen führt. […] Jedes Mal, wenn wir uns als Nation, als Gruppe, als Kontinent selbst bespiegeln und unsere Identität feiern, feiern wir eigentlich nur unsere eigenen Grenzen und bejubeln unsere eigene Einfalt. […] Ein „Ministerium für nationale Identität“, wie es vor einiger Zeit in Frankreich eingeführt wurde, ist nicht mehr als ein Ministerium für nationale Beschränktheit.


Literatur

  1. Rovelli C (2019). Die Geburt der Wissenschaft: Anaximander und sein Erbe. Hamburg: Rowohlt.
  2. van Riel R & van Gulick R (2019). Scientific Reduction. The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2019 Edition), EN Zalta (Hg.): https://plato.stanford.edu/archives/spr2019/entries/scientific-reduction/
  3. Guidry M (2019). Modern General Relativity: Black Holes, Gravitational Waves, and Cosmology. Cambridge: Cambridge University Press.
  4. Rovelli C (2016). Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint: Eine Reise in die Welt der Quantengravitation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S.123.
  5. Rovelli C (2019). Die Geburt der Wissenschaft: Anaximander und sein Erbe. Hamburg: Rowohlt, S.148.
  6. Russell B (2004). Philosophie des Abendlandes. München: Piper, S.49.
  7. Rovelli C (2019). Die Geburt der Wissenschaft: Anaximander und sein Erbe. Hamburg: Rowohlt, S.129f.