Leben und Zeit des Michael K.

Mit Michael K. erschuf J. M. Coetzee eine Romanfigur, die ich so interessant wie kaum eine andere finde: Obwohl K. rätselhaft, fremd und unfassbar bleibt, fühlte ich mich während der Lektüre von „Leben und Zeit des Michael K.“ mit ihm verbunden. Diese Spannung zwischen einer tiefen Sympathie, die ich gegenüber K. spüre, und der erzählerischen Distanz, mit der Coetzee seinen Protagonisten schildert, faszinieren mich am Roman am meisten.

Castle und Schloss

Coetzees Roman spielt in einem fiktiven, vom Bürgerkrieg zerrissenen Südafrika. K. möchte seine vom Bürgerkrieg stark betroffene Stadt verlassen und auf das Land fliehen: ein schwieriges Unterfangen in einer Umgebung, die von Schlagbäumen und Stacheldrähten durchzogen ist. K.s Mittellosigkeit verstärkt sein Ausgeliefertsein gegenüber einer polizeilichen und militärischen Bürokratie.

Dem Roman gelingt dabei eine der überzeugendsten Darstellungen, wie sich überall auf der Welt Angehörige bestimmter sozialer Klassen bürokratischer Herrschaft unterwerfen müssen. Auch K., der auf dem Land eigentlich nur Kürbisse ziehen und im Einklang mit der Natur leben will, gerät immer wieder in die Fänge der Bürokratie.

Schon der Name K. verweist auf die Werke Franz Kafkas. In „Leben und Zeit des Michael K.“ ist es ein mysteriöses Castle, das die Speerspitze der militärischen Bürokratie bildet: ein Verweis auf Kafkas Romanfragment „Das Schloss“. Die anonymen Weisungen aus dem Castle bleiben für Michael K. – aber auch für Angehörige der Bürokratie – völlig unverständlich. Wie der Landvermesser K. aus Kafkas Roman hat auch Michael K. keine Möglichkeiten, auf die Vorgänge im Castle einzuwirken.

Anders als der Landvermesser K. versucht Michael K. es aber erst gar nicht. Er spürt im Gegensatz zu Kafkas Protagonisten keinen Drang, Prozesse in einer Gesellschaft zu beeinflussen, die ihm feindselig gegenübersteht: Nicht nur vom „Schloss“, auch von anderen Werken Kafkas wie dem „Hungerkünstler“ oder dem „Prozess“ ist Coetzees Roman spürbar beeinflusst. Deswegen sei jedem Kafka-Fan die Lektüre ans Herz gelegt.

Der erste Teil von „Leben und Zeit des Michael K.“, der den größten Platz im Roman einnimmt, teilt außerdem stilistische Merkmale mit Kafkas Schaffen. In ihm erzählt der Roman zwar aus K.s Perspektive, hält aber zugleich Distanz zu seiner Hauptfigur. Mit Kafka verbindet dieser Teil seine nüchterne Erzählweise, während er zugleich unglaubliche Vorgänge schildert. Durch die sachliche und berichtende Erzählung wirken die Ereignisse im Roman erstaunlich glaubwürdig.

It’s better to fade away than to burnout

Was den magischen Realismus Coetzees allerdings auszeichnet, ist, dass wohl viele Leser*innen eine starke Sympathie zu Michael K. aufbauen, obwohl er ihnen fremd bleiben wird. K.s eigene Bedürfnisse schwinden wie sein Körper im Laufe des Romans. Dennoch legt er durch sein Tun die Brutalität der geschilderten Gesellschaftsordnung offen. Er verweigert seine Teilnahme an einem grausamen Spiel auf eine radikale Art und Weise. Damit ähnelt er Hermann Melvilles „Bartleby“, der mit dem kurzen Satz „Ich möchte lieber nicht“ und seiner absoluten Friedfertigkeit sein Einverständnis aufkündigt.

Der Südafrikaner J. M. Coetzee, der das Apartsheidsregime kritisierte, schrieb „Leben und Zeit des Michael K.“ im Jahre 1983. Einige sehen den Roman auch deswegen als eine Allegorie auf die Apartheid. Dies kann ich weniger erkennen, weil der Roman höchst unklare Aussagen über die politischen Verhältnisse trifft.

Stattdessen handelt der Roman von K., der als Unterdrückter seinen höchst individuellen Weg findet, sich zu widersetzen. Der Roman erlaubt es K. als personifizierter Anderer, anders als alle anderen zu bleiben. Damit stellt er die Antithese zum bürgerlichen Bildungsroman dar: Im Gegensatz zu den Figuren aus den Bildungsromanen verfügt K. aufgrund seiner sozialen Klasse, seiner Hautfarbe und seines Aussehens über keine Macht. Er verfügt nicht über den Luxus, erst mit der Gesellschaft hadern und sich danach trotzdem einfügen zu können. Er muss sich vollständig verweigern, um nach seinen Bedürfnissen streben zu können.

Im „Leben und Zeit des Michael K.“ wird die Perspektive des Bildungsromans durch den bürgerlichen Arzt verkörpert, der im zweiten Teil von Coetzees Roman der Ich-Erzähler ist. Er hilft K. und bewundert ihn, fleht ihn aber gleichzeitig an, sich anzupassen. Seine Reflektiertheit und linksliberale Haltung unterscheidet den Arzt von den brutalen Vertreter*innen der Bürokratie. Indem er K. retten möchte, versucht er ihn aber – ähnlich wie die Bürokratie – nach seinen Vorstellungen umzuformen. Durch die geforderte Anpassung müsste K. allerdings das, was ihn auszeichnet, aufgeben.

Dies spiegelt auch der plötzliche Bruch des Erzählstils wider, wenn der zweite Teil beginnt. Durch die nüchterne Erzählung im ersten Teil gelingt es dem Roman, seine Hauptfigur ernstzunehmen und nicht in Betroffenheitskitsch zu verfallen. Dagegen verfällt der Ich-Erzähler des zweiten Teils in ebendiesen Betroffenheitskitsch, wenn er sich wilden und nicht zu verwirklichenden Fantasien hingibt, wie er K. retten könnte. Der redselige und ihm Gegensatz zu K. einfach zu durchschauende Erzähler versucht ständig, K.s Handeln zu deuten. Ihm dient es als Vorlage die ausufernde Schilderung seiner Gefühle, während man im zweiten Teil äußerst wenig über K.s Bedürfnisse erfährt. Zugleich ist er als Lagerarzt immer auch Komplize des Systems.

Ganz anders K.: Er bleibt der Undurchschaubare. Er lebt in seiner eigenen Zeit und zeigt damit, dass es auch ganz anders ginge. Er verschwindet immer wieder in eine andere Welt, was ihm sinnvoller erscheint, als für einen sinnlosen Kampf, der nicht seiner ist, auszubrennen.