Popliteratur des 19. Jahrhunderts: Große Erwartungen

Vor fast 160 Jahren erschien Charles Dickens Roman „Große Erwartungen“1. Vielfach als bestes Werk von Dickens bezeichnet, überrascht mich vor allem die unglaubliche stilistische und inhaltliche Modernität des Romans.

Die Geburt der Serie

Woran liegt das? Dickens Geschichte über das Erwachsenwerden des Waisenjungen Pip, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch einen mysteriösen Wohltäter zu Reichtum kam, aber an den Erwartungen der damaligen Gesellschaft fast zerbrach, hat keinen offensichtlichen Gegenwartsbezug. Durch die Zeitsprünge erfährt die Leserin viel darüber, wie sich England während der Industriellen Revolution veränderte. Deswegen kann die Geschichte heute auch als historischer Roman gelesen werden.

Wer sich darauf beschränkt, verpasst aber einiges. Eine Eigenheit, durch die „Große Erwartungen“ so modern wirkt, ist, dass Dickens unterschiedliche Genres wild mischt. Der Roman verknüpft die beiden klassischen Formen des Bildungs- und Gesellschaftsromans mit einer Kriminalgeschichte, Horrorelementen, Gesellschaftskritik und sehr komischen Stellen. Dieser völlig freie Umgang mit Stilen erklärt vielleicht auch, dass bis ins 20. Jahrhundert viele Literaturkritiker mit Dickens nicht viel anfangen konnten, die Leserschaft aber umso mehr.

Im 19. Jahrhundert war „Große Erwartungen“ ein Bestseller. Erstmals erschien das Werk zwischen 1860 und 1861 als Fortsetzungsroman in Dickens eigener Literaturzeitschrift „All the Year Round“. Viele Techniken, die Handlung zu entwickeln, werden den Zuschauerinnen populärer Film- und Fernsehserien bekannt vorkommen. Dickens arbeitet mit ausgefallenen Plot-Twists, führt die Leser auf die falsche Fährte und enthüllt überraschende verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Charakteren.

Dadurch ist die Geschichte auch für Menschen interessant, die sich eher für Serien wie „Star Wars“ als für Romane des 19. Jahrhunderts begeistern können. Auch den Actionfan bedenkt der Roman, indem er eine Verfolgungsjagd auf der Themse einbaut. Diese findet man zum Beispiel auch im James-Bond-Film „Die Welt ist nicht genug“ oder in einem neuen Roman des Jugendbuchautors Philip Pullman2, der eine solche Verfolgungsjagd auf die Hälfte eines einzelnen Romans ausdehnt.

Durch die häufigen Stilwechsel und teilweise absurd anmutenden Haken, die die Handlung schlägt, wirkt der Roman zudem aus einem anderen Grund modern: Beim Lesen stellt sich manchmal das Gefühl ein, dass Dickens unzuverlässig erzählt. Wenn Pip beispielsweise zum ersten Mal die Anwesen von Miss Havisham und John Wemmick betritt, entwirft Dickens in beiden Fällen geradezu surreale Kulissen. Vor allem während der ersten Szenen in Miss Havishams Satis House stellte ich mir anfangs die Frage, ob Pip als Ich-Erzähler nicht eher seine kindliche Fantasien als reale Erlebnisse schildert.

Die Kreuzung sozialer Kreise

Dickens beweist über den ganzen Roman hinweg seine Gabe, den Prozess des Erwachsenwerdens zu beschreiben, indem er sich in Pips Gefühlswelt hineinversetzt. Dabei psychologisiert er aber nicht, sondern stellt die Gefühle und Wünsche Pips den widersprüchlichen Forderungen der Erwachsenenwelt gegenüber. Diese Forderungen bilden die erste Bedeutungsebene der „Großen Erwartungen“.

Der Roman leitet dieses Thema ein, indem er ganz im Anfang die entgegengesetzten Weisungen seiner großen Schwester, die Pip erzieht und der er generell nichts recht machen kann, und eines entflohenen Strafgefangenen nebeneinander stellt. Pip muss sich während seines Erwachsenenwerdens dauernd zu solchen Konflikten verhalten: Die Erwartungen des Landes stehen denen in London entgegen, die des Geschäftsleben denen der Freundschaft oder die seiner Familie denen der feinen Gesellschaft.

Georg Simmel3 meinte in diesem Atemzug Ende des 19. Jahrhunderts, dass die Menschen durch die gesellschaftliche Modernisierung in immer mehr soziale Gruppen mit unterschiedlichen Werten und Normen eingebunden wären. Dadurch – so Simmel – wüchsen die Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung. Dagegen zeigt Dickens Roman, dass diese Gruppen jeweils eigenen überindividuellen Logiken folgen und nur bestimmte Verhaltensweisen zulassen: Pip ist in verschiedenste soziale Gruppen eingebunden, die alle etwas anderes von ihm erwarten. Deswegen muss er sich verbiegen und einfügen, was ihn innerlich fast zerreißt.

Bis heute hat sich die Zugehörigkeit einer Person zu unterschiedlichen Gruppen weiter aufgefächert, wodurch es zu inneren Konflikten zwischen den verschiedenen eingenommenen sozialen Rollen kommen kann. Gerade Heranwachsende sind mit widersprüchlichen Signalen aus ihrem Umfeld konfrontiert. In unserer Gesellschaft konkurrieren zum Beispiel eine Wettbewerbs- und Konsumideologie mit Normen der gegenseitigen Hilfe und Verbundenheit.

Diese Zerrissenheit spiegeln im Roman auch die Nebencharaktere wieder; am deutlichsten John Wemmick. Als Angestellter des skrupellosen Anwalts Mr. Jaggers übernimmt er während seiner Arbeitsstunden das Verhalten seines Chefs. Überdies unterrichtet er Pip, wie er auf rücksichtslose Art zu einem Vermögen hätte kommen können. Wenn Wemmick dagegen abends zu seinem einer Burg nachempfundenen Anwesen zurückkehrt, lässt er die Zugbrücke hoch und verwandelt sich in einen anderen Menschen. In seiner Burg kümmert er sich rührend um das Wohlergehen seiner Gäste und lebt seine kreative Seite aus. Als Mr. Jaggers davon Wind bekommt, sorgt das zwischen den beiden kurz für Irritationen, bis Wemmick wieder in sein arbeitstypisch grobes Verhalten zurückfällt.

Wer bin ich?

Die zweite Bedeutungsebene verweist auf Pips eigene „Große Erwartungen“ an seine Zukunft. Nachdem er sich in die hochnäsige Estella verliebt hat, die wie Pip eine Waise ist und von der gespenstischen und wohlhabenden Miss Havisham aufgezogen wird, wächst seine Unzufriedenheit mit seiner eigenen bescheidenen Existenz. Später in der Geschichte wird er seine Ausbildung als Schmied abbrechen, weil ein unbekannter Gönner ihm zu Reichtum verhilft.

Mit dem hohlen Ideal im Kopf ein angesehener Gentleman zu werden, zieht Pip vom Land nach London. Dass er zum ersten Mal mit den Werten der feinen Gesellschaft im morbiden und albtraumhaften Satis House konfrontiert wurde, verdeutlicht, wie leer und zerfallen dieses Wertegerüst ist. Pip begreift, wie sein Aufstiegsstreben dazu führt, dass er sich von ihm nahestehenden Menschen entfernt und sich sogar für sie schämt. Er erkennt im Laufe des Romans aber immer stärker, wie seine vermeintlich eigenen Erwartungen eigentlich von sozialen Normen bestimmt sind. Erst, als er dies durchschaut hat, kann er sich von seinem Streben nach gesellschaftlichem Ansehen lösen, wodurch sich seine Persönlichkeit entwickeln kann.

Gewinnmaximierung

Die dritte Ebene der „Großen Erwartungen“ ist leichter zu verstehen, wenn man sich die möglichen Bedeutungen des englischen Wortes expectations vor Augen führt. Im Englischen kann das Wort auch auf zu erwartende finanzielle Gewinne anspielen. Mit Pips Wohlstand bricht jedoch die Kriminalität und Gewalt immer wieder in sein Leben ein. Überdies beruht der Reichtum seines Wohltäters auf kolonialer Aneignung, wie Pip im Laufe der Geschichte herausfindet.

Auch in unserer Gegenwart wissen wir meist nicht oder wollen nicht wissen, ob unsere Konsumgüter auf Ausbeutung von Mensch und Natur basieren. Wie Wemmick ziehen wir uns vielleicht ins Private oder in immer trutziger werdende Autos zurück und konsumieren ein bisschen bewusst, damit wir uns die wirklich wichtigen systemischen Fragen nicht mehr stellen müssen.

Pip löst den Kreislauf zwischen Gewalt und Reichtum auf, indem er auf das Vermögen des Verurteilten Abel Magwitch verzichtet und ihm stattdessen zur Seite steht. Er hört damit auf Gewinnmaximierung um jeden Preis zu betreiben. Charles Dickens – als Moralist – glaubte fest daran, dass solche Gewissensentscheidungen die Welt zu einem besseren Ort machen können.

Diese Sichtweise wirkt aus heutiger Sicht naiv, weil sie verkennt, dass die großen Fragen unserer Zeit wie soziale Ungerechtigkeit oder Umweltzerstörung kollektive Probleme sind. Deswegen erfordern sie auch kollektive Lösungen, die im demokratischen Rahmen beschlossen werden und nicht vom guten Willen einzelner Akteurinnen abhängig sind.

Zeitreisen

Auch das Frauenbild fällt gestrig aus, was ebenfalls besonders am Ende des Romans offensichtlich wird: Estella muss einen gewalttätigen Ehemann ertragen, um ihre Eitelkeit abzulegen. Somit sticht das Ende deswegen hervor, weil es im Vergleich zur in weiten Teilen erstaunlich modernen Geschichte altbacken und sentimental wirkt.

Allerdings findet die Läuterung Estellas in der modernen Serienlandschaft immer noch Widerhall. So durchleidet die oberflächliche Sansa Stark in „Game of Thrones“ ein unglaubliches Martyrium, um hinterher eine selbstbewusste und gereifte Herrscherin werden zu können. Wie in „Große Erwartungen“ viele moderne Züge ihren Platz finden, so enthalten zeitgenössische Geschichten oft anachronistische Eigentümlichkeiten. Literatur enthält in diesem Sinne immer ein die Zeiten überspannendes Element.


Literatur

  1. Dickens C (2010). Große Erwartungen. Stuttgart: Reclam.
  2. Pullman P (2017). The Book of Dust. Volume One: La Belle Sauvage. Oxford: David Fickling Books.
  3. Simmel G (1890). Über soziale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen. Leipzig: Dunker & Humblot.