Im Jahre 2000 erschien die englische Originalausgabe von Michael Chabons Roman „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“. Zwanzig Jahre später fungiert Chabon als Showrunner und Hauptautor einer Serie, die nach einem Held meiner Kindheit benannt ist. Sie heißt „Star Trek: Picard“, deren Protagonist – o Wunder – der Raumschiffcaptain Jean-Luc Picard ist. Von 1987 bis 2002 flog Picard mit der Enterprise auf der kleinen und der großen Leinwand ins All. Nun kehrt er mit neuem Raumschiff zurück.
Als Picard-Fan lag es für mich deshalb auf der Hand, vor Serienstart einen Roman von Chabon zu lesen. Die Wahl fiel auf „Die unglaublichen Abenteuer“, da das Buch mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Ich habe mir meine Wahl von der Jury des Pulitzers abnehmen lassen, weil ich von Chabon noch nichts gehört hatte. Beim Lesen des Romans fiel mir aber auf, dass er einige Gemeinsamkeiten mit dem Star Trek-Universum teilt.
Inhalt
- Comics und Entfesselung
- Star Trek als Utopie
- Die Gedanken sind frei
- Ein stählerner Käfig aus Ironie und Zynismus
- Weniger Coolness wagen
- Literatur
Comics und Entfesselung
Zuerst aber kurz zur Handlung: Sie spielt zwischen 1939 und 1952 – diese Zeitspanne spiegelt das Goldene Zeitalter des Comics wider. Im Mittelpunkt des Romans steht der jüdische Prager Junge Josef Kavalier. Ihm gelingt es, mit dem mythischen Prager Golem dem Nazi-Terror zu entfliehen. In New York angekommen, erschafft er mit seinem Cousin Sam Clay Superhelden-Comics. Ihre berühmteste Schöpfung ist der Eskapist, ein Entfesselungskünstler, der gegen die Nazis kämpft.
Vor diesem Hintergrund entspinnt sich eine erfindungsreiche und oft tragische Geschichte. Zu Josef und Sam gesellt sich die gleichaltrige New Yorkerin Rosa Saks. Schon allein diese Dreieckskonstellation macht den Roman lesenswert und einzigartig. Chabons Sprache wird nie sentimental, wenn er die Freundschaft zwischen den Drei beschreibt. Dennoch entwickeln diese drei Charaktere und ihre Beziehung zueinander im Verlauf des Romans eine unglaubliche Tiefe, wodurch mich ihr Schicksal sehr berührt hat.
Der Hauptcharakter bleibt aber Josef Kavalier. Er ist nach zwei Personen benannt, einer fiktiven und einer realen. Der Name verweist erstens auf den Protagonisten Josef K. aus dem „Prozess“ des Prager Schriftstellers Franz Kafka. Im „Prozess“ scheitern K.s Versuche, ein mysteriöses Verfahren gegen ihn aufzuhalten. Auch in den „unglaublichen Abenteuern“ schlagen Josef Kavaliers Versuche im realen Leben fehl, gegen die Nazis zu kämpfen und seine Familie vor ihnen zu retten. Allerdings gelingt es Kavalier durch seine Kunst und Comics, die nationalsozialistische Ideologie bloßzustellen.
Zweitens bezieht sich der Name auf den Comiczeichner und -autor Jack Kirby, von dessen Leben und Schaffen der Roman spürbar beeinflusst ist. Der New Yorker Kirby hieß ursprünglich Jacob Kurtzberg. Aufgrund von antisemitischen Erfahrungen änderte er seinen Namen. Dagegen legt Josef Kavalier seinen deutschen Vornamen ab und veröffentlicht seine Werke mit amerikanisierten Namen Joe Kavalier. Für ihn wirkt die Namensänderung deswegen wie seine Kunst befreiend. Für jemanden, der im Leben mit Tragödien und vielen Einschränkungen zu kämpfen hat, bedeutet das schon viel.
Star Trek als Utopie
Eine von Chabons Star Trek-Lieblingsfolgen ist „Jenseits der Sterne“ aus der Serie „Deep Space Nine“. Sie erschien zeitlich – 1998 – kurz vor der Publikation seines Romans. Auch nimmt sie sich ähnlichen Themen an. Wie „Die unglaublichen Abenteuer“ spielt sie im Milieu der pulp magazines. Dies waren billig und schnell produzierte Hefte, die Mitte des letzten Jahrhunderts in den USA populär waren.
Im Zentrum der Episode steht der schwarze Science-Fiction-Autor Benny Russell, der sich 1953 mit Rassismus auseinandersetzen muss. Der Kniff der Folge ist, dass sich Russell die Welt von „Deep Space Nine“ in seinem Fortsetzungsroman erträumt. Dabei wird Russell von Avery Brooks gespielt, der auch die Hauptfigur der Serie verkörpert: den schwarzen Kommandanten Benjamin Sisko der Raumstation Deep Space Nine im 24. Jahrhundert. Sisko wiederum träumt vom New Yorker Russell.
Die Episode löst nie gänzlich auf, wer der Träumer und wer der Traum ist. Dadurch stellt sie wie Chabon interessante Fragen, wie sich Autor*innen und ihre Werke zueinander verhalten. Sowohl Benny Russell als auch Joe Kavalier erleben in ihrem Leben, wie die Gesellschaft sie und andere diskriminiert. Daraus erwächst ihr Wunsch, der Wirklichkeit zu entfliehen. Im Eskapisten ist dieses Bedürfnis schon im Namen der Figur angelegt.
Gleichzeitig halten beide Werke ihrer Gegenwart aber auch den Spiegel vor, durch den diese dystopisch wirkt. Russell stellt sich eine Zukunft vor, in der Rassismus, Sexismus, Armut und Knappheit überwunden sind. Deswegen sind Weltflucht und Gesellschaftskritik keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Chabon drückt dies so aus1 (S.732f):
Am meisten liebte er sie wegen ihrer Bilder und Geschichten, wegen der Eingebungen und nächtlichen Maloche von fünfhundert älter gewordenen Kollegen, die, so gut sie konnten, fünfzehn Jahre lang Märchen erträumt hatten, die ihre Unsicherheit und Enttäuschung, ihre Wünsche und Zweifel, ihre staatliche Erziehung und sexuelle Perversion in etwas verwandelt hatten, dem nur die kurzsichtigste aller Gesellschaften den Kunststatus verweigern konnte. Comics hatten Joe in der Psychiatrie von Guantánamo Bay die geistige Zurechnungsfähigkeit bewahrt. […] Es war ein Zeichen dafür, wie verkommen und zerbrochen die Welt — die Wirklichkeit — war, die seine Heimat und seine Familie geschluckt hatte, wenn eine solche Leistung des Entkommens, die alles andere als leicht zu vollbringen war, so gemeinhin abgetan wurde.
Die Gedanken sind frei
Vom Prager Golem über den Eskapisten bis hin zu Benny Russells Science-Fiction verläuft eine Linie. All diese Geschichten bieten den Unterdrückten Schutz, den sie in der Wirklichkeit nicht erfahren. Am radikalsten ist dabei die Star Trek-Episode: Russell kann aufgrund von Rassismus seine Geschichten nicht mehr veröffentlichen. Es bleibt ihm allein seine Idee, wie die fantastische Schlüsselszene der Episode zeigt2. Dahinter steckt die Aussage, dass kein Regime der Welt den Menschen ihren Traum nach einer besseren Gesellschaft nehmen kann.
Dieses Ideal verkörpert im großen – natürlich auch widersprüchlichen – Star Trek-Universum vielleicht kein anderer Charakter so sehr wie Jean-Luc Picard. Der besonnene Diplomat Picard steht für eine egalitäre und tolerante Gesellschaft, in der sich jeder Mensch frei entfalten kann. Er versucht trotz seines starken eigenen moralischen Kompasses stets, die Bedürfnisse und Ansichten anderer zu berücksichtigen. In Diskussionen setzt er auf die Macht vernünftiger Argumente. Gleichzeitig besitzt er ein starkes Mitgefühl — sogar mit seinem Folterer in der Episode „Chain of Command“3.
Ein stählerner Käfig aus Ironie und Zynismus
Eine fast übermenschliche Figur wie Picard mag in der heutigen Fernsehwelt kitschig wirken. Der Schriftsteller David Foster Wallace hat in seinem Essay „E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction“4 nachgezeichnet, wie populäre Fernsehserien in 1990er Jahren den ironischen Stil der Gegenkultur und der Avantgarde-Literatur der 1960er Jahre aufgegriffen haben. Dieser Trend hält bis heute an. Foster Wallace macht den Punkt, dass Ironie und Zynismus früher dazu diente, die verlogenen gesellschaftlichen Verhältnisse offenzulegen.
In der Gegenwart diene sie aber einem anderen Zweck: dem ironischen Konsum. Ein Beispiel ist das so genannte ironische Schauen von Reality-Soaps, in denen Menschen schlecht behandelt werden. Ironie transzendiert in diesem Zusammenhang nicht mehr die Verhältnisse. Im Gegenteil: Sie verschleiert sie. Mit dem Argument, das sei doch nicht ernstgemeint, lässt sich das Ganze besser rechtfertigen.
Auch die neuere Star Trek-Serie „Discovery“ folgt diesem Trend. Allerdings erschöpft sich die Ironie weitgehend auf Oneliner und „kultige“ Anspielungen auf die anderen Star Trek-Serien. Vor allem ist „Discovery“ zynisch: Die Föderation – in älteren Folgen ein fortschrittlicher galaktischer Völkerbund – stellt die Serie als totalitäre und militaristische Organisation dar. Sie betreibt Geschichtsfälschung, wie es sich George Orwell nicht hätte träumen lassen. In ihr haben Einzelpersonen das Sagen, die sich in endlose Intrigen à la „House of Cards“ verstricken.
Die Seriencharaktere handeln verroht und nach keinem erkennbaren Muster, was sich auch in ihrer Sprache niederschlägt. Sie rechtfertigen ihr Verhalten mit dem Hinweise, dass die Welt eben so brutal sei. Dem Zuschauer wird kein Ausweg geboten: Eine Aussage, die einen scharfen Kontrast zu Chabons Roman und vielen älteren Star Trek-Episoden bildet. Überdies zeigt sie, dass „Discovery“ das Genre der Science-Fiction nicht verstanden hat. Seine Stärke liegt eben gerade im Ausloten alternativer Möglichkeiten.
Weniger Coolness wagen
Chabon und Foster Wallace entstammen der gleichen Generation. Ähnlich wie Foster Wallace vertritt Chabon die Meinung, dass die Zeit zynischer Zukunftsentwürfe vorbei sei. Ein Charakter wie Picard müsste es als seine moralische Pflicht sehen, sich gegen die Föderation aufzulehnen, wie sie in „Discovery“ dargestellt wird. In der bisher einzigen ausgestrahlten Folge von „Picard“ passiert tatsächlich etwas in dieser Art.
Natürlich haben viele der älteren Episoden ihre Schwächen: Pseudotechnologische Erklärungen – so genanntes technobabble – treiben viel zu oft die Handlung voran. Die Geschichten werden häufig konventionell erzählt und stecken voller Science-Fiction-Klischees. Wenn „Star Trek: Picard“ andere Wege fände, das Star Trek-Universum zu erkunden, wäre das begrüßenswert
Andererseits gefällt mir die Haltung der alten Folgen sehr, weil sie sich dadurch angreifbar machen. Sie riskieren es kitschig zu sein, aber gerade dadurch eröffnen sie heute noch neue Perspektiven. Sie glauben oft wie „Jenseits der Sterne“ fest daran, dass Geschichten die Welt zu einem besseren Ort machen können. Chabons „unglaubliche Abenteuer“ teilen diese Grundhaltung. Die erste Folge stimmt jedenfalls hoffnungsfroh, dass „Picard“ diese Tradition fortführt.
Literatur
- Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
- Brooks A (Regie), Zicree MS, Behr IS, Beimler H (Autoren) (1998). Far Beyond the Stars. Star Trek: Deep Space Nine (Staffel 6, Episode 13). Los Angeles: Paramount. Auf Youtube kann man die dreiminütige Schlüsselszene ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=MY1FL_CDqE4.
- Chain of Command II. Star Trek: The Next Generation (Staffel 6, Episode 11). Los Angeles: Paramount. Das starke Schauspiel von Patrick Stewart in dieser Episode ist genauso wie das von Brooks in einem kleinen Clip abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=2X-2d4COiKs
- Der Spaß an der Sache: Alle Essays. Köln: Kiepenheuer & Witsch: In diesem Essayband liegt er erstmals in deutscher Übersetzung vor.