Ursula K. Le Guin: Ein Multiversum der Ideen

Vor zwei Jahren starb die Autorin Ursula K. Le Guin. Sie hat unzählige Schriftsteller*innen wie Margaret Atwood, Kim Stanley Robinson, Salman Rushdie, Jonathan Lethem oder Zadie Smith beeinflusst. Michael Chabon bezeichnete Le Guin als „the greatest American writer of her generation“.1 Ihre zeitlose Literatur wird auch in Zukunft viele Menschen begleiten. Sie ist gleichzeitig politisch und persönlich. Sie fordert die Leserin heraus, andere Blickwinkel einzunehmen. Sie nimmt den Leser ernst und lädt ihn ein selbst zu denken.

Le Guins Romane werden häufig unter die Rubriken „Fantasy“ und „Science Fiction“ eingeordnet. Sie schrieb Romanzyklen. Ihre Zyklen bestehen aus mehreren lose verbundenen Romanen, die in einem fiktionalen Universum spielen. Le Guin entwarf mit unbändiger Fantasie stimmige Welten. In den verschiedenen Romanen betrachtete sie die entsprechende Welt aber aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln: Wie ihr Denken bestechen ihre Welten durch ihre Offenheit, nicht durch Geschlossenheit. Sie reißen die Mauern zwischen der Imagination und der Wirklichkeit ein.

Ich habe mich entschlossen, auf jeweils einen Roman aus den beiden berühmtesten Romanzyklen einzugehen. Aus dem Erdsee-Zyklus, der in einer Fantasy-Welt spielt, habe ich den 1968 erschienenen Roman „Der Magier der Erdsee“2 ausgesucht – vielleicht den ursprünglichsten Fantasy-Roman überhaupt.

Dagegen ersinnt der Hainish-Zyklus ein Universum, das der Science Fiction zuzuordnen ist. Ich diskutiere den 1974 veröffentlichten Roman „The Dispossessed: An Ambiguous Utopia“, ein kühnes politisches Gedankenexperiment. 2017 erhielt er im Rahmen einer gelungenen Neuübersetzung seinen dritten deutschen Titel – den ersten angemessenen: „Freie Geister“.3

Der Magier der Erdsee

Der erste Roman des Erdsee-Zyklus legt das Gerüst, auf dem die meisten Fantasy-Romane aufbauen, offen. Er handelt vom Erwachsenwerden des hochtalentierten Zauberers Ged, der aus Hochmut unwillentlich einen Schatten heraufbeschwört. Die Geschichte ist ganz auf ihr zentrales Thema ausgerichtet: wie Ged lernt, den Schatten zu verstehen und kontrollieren.

Le Guin lässt vieles weg, um diese Reduktion auf das Wesentliche zu erreichen. Epische Schlachten, komplizierte Verschwörungen, unzählige Charaktere – all diese klassischen Fantasy-Elemente bietet „Der Magier von Erdsee“ nicht. 

Dennoch ist er für mich der ursprünglichste Fantasy-Roman. Mit der Erdsee erschuf der Roman eine Inselwelt, die völlig stimmig wirkt. Die einzelnen Inseln besitzen ein eigenes Wesen: Sie treten als Charaktere wie die in die Handlung verwickelten Personen auf. Wie kaum ein anderer lässt der Roman die Leserin in seine Welt eintauchen.

Einerseits behält „Der Magier von Erdsee“ das für Fantasy typische Gut-Böse-Schema bei: Der Schatten gilt als das Böse. Zugleich überwindet der Roman es, weil der Schatten auch einen Teil der Persönlichkeit Geds verkörpert. Dies zeigt sich auch daran, dass der Schatten Narben auf Geds Körper hinterließ, die bei einem erneuten Zusammentreffen wieder zu schmerzen beginnen. Ged muss sich mit diesem Teil seiner Persönlichkeit auseinandersetzen, damit der Schatten kein Unheil mehr anrichten kann.

Allerdings vermeidet Le Guin es in allen Einzelheiten zu beschreiben, was den Schatten ausmacht. Dadurch lädt sie den Leser ein nachzudenken, welche Bedeutung er dem Schatten zuweist. Zweifellos trug die Offenheit des Romans dazu bei, dass er andere Autor*innen inspiriert hat. In der viel bombastischeren „Harry Potter“-Reihe sind zum Beispiel deutliche Einflüsse erkennbar.

Freie Geister

Noch bahnbrechender als Le Guins Fantasy-Romane ist ihre Science Fiction gewesen. Mit der „linken Hand der Dunkelheit“ – wie  „Freie Geister“ ein Roman aus dem Hainish-Zyklus – schrieb sie den bekanntesten Text der feministischen Science Fiction. Ihre Romane begründeten zusammen mit Frank Herberts Meisterwerk „Dune“ das Genre der ökologisch orientierten Science Fiction. Anders als der eher konservative Herbert nahm sie dabei einen linkslibertären politischen Standpunkt ein.

Le Guins Science Fiction-Romane sind aufregende Gedankenexperimente. „Freie Geister“ aus dem Jahr 1974 spiegelt dies mustergültig wider. Der Roman spielt im realen Tau Ceti-System auf dem fiktiven Planeten Urras und seinem kargen Mond Anarres. Die politische Situation auf Urras ähnelt der tatsächlichen irdischen während der 1970er Jahre: Sie ist durch Systemkonkurrenz zwischen dem staatskapitalistischen A-Jo und dem autoritären kommunistischen Thu geprägt, die Stellvertreterkriege im armen Benbili führen.

Dagegen ist Anarres‘ Gesellschaftssystem ein anarchistisches. Le Guin verlegt dieses System auf den Mond und nicht auf den erdähnlichen Planeten – eine aus zwei Gründen intelligente Wahl. Erstens versinnbildlicht sie, dass es eine ähnliche Gesellschaft wie auf Anarres in der Wirklichkeit noch nie gegeben hat.

Zweitens macht Le Guin unter anderem damit deutlich, wie  zerbrechlich und gefährdet eine solche Gesellschaft wäre. Gesellschaftssysteme, die anarchistische Elemente enthielten, verschwanden auf unserer Erde immer recht schnell. Das prominenteste Beispiel – Katalonien nach der Revolution von 1936 – wurde am stärksten von den damaligen faschistischen, aber auch von den kommunistischen und etwas schwächer von den kapitalistischen Staaten bekämpft. Als jüngstes Beispiel kann der Angriff der Türkei auf Rojava in Nordsyrien gelten, eine gesellschaftliche Ordnung, die einige libertäre Ansätze beinhaltet.

Im Mittelpunkt der Handlung steht der geniale anarresische Physiker Shevek, dessen Lebensweg auf Anarres geschildert wird und der schließlich als erster Anarrese nach Urras zurückkehrt. Die Geschichte schildert abwechselnd sein Leben auf Anarres und seinen zeitlich danach erfolgenden Besuch auf Urras. Der Roman endet am gleichen Ort, an dem er auch anfängt. Diese Struktur spiegelt Sheveks Theorie wider, die Zeit sowohl als sequenzielle Abfolge als auch als wiederkehrenden Zyklus begreift.

Die eher metaphysischen Betrachtungen über das Wesen der Zeit nehmen im Buch zu viel Platz ein. Erstens hätte der Roman das gar nicht nötig gehabt, weil schon seine Struktur diese Betrachtungen widerspiegelt. Zweitens trennt der Roman nicht zwischen metaphysischen und physikalischen Überlegungen. Diese Unterscheidung halte ich aber für sinnvoll, weil sie subjektive weltanschauliche Ansichten und wissenschaftliche Erkenntnisse auseinanderhält. Le Guin hätte mich für diese Position allerdings als „eifersüchtige[n] Mauerbauer“4 bezeichnet.

Anarres

In den geraden Kapiteln, die auf Anarres spielen, schildert Le Guin Sheveks Erfahrungen in der anarchistischen Gesellschaft des Mondes. Wie der Untertitel des Romans vermuten lässt, sind seine Erfahrungen zwiespältig. Von einer klassischen Utopie kann deswegen nicht die Rede sein. Le Guin verlangt von ihren Leser*innen, ständig zu reflektieren, welche Charakteristika der anarresischen Gesellschaft überhaupt erstrebenswert wären. Im gleichen Atemzug stellt „Freie Geister“ die Frage, unter welchen Bedingungen diese erstrebenswerten Elemente in der Wirklichkeit umsetzbar wären.

Einerseits mutet die anarresische Gesellschaft egalitär an. In der harschen Umgebung von Anarres garantiert diese Ordnung weitestgehend, dass alle Bürger*innen genug zum Leben haben. Die Gesellschaft kennt keine organisierte physische Gewalt mehr, obwohl es vereinzelt noch zu gewälttätigen Übergriffen kommt. Hierarchien und das dazugehörige Denken existieren praktisch nicht mehr. Der Roman erzählt dieses Szenario erstaunlich glaubwürdig – so, als hätten sich die Anarres*innen bloß von ein paar überflüssigen gesellschaftlichen Übeln befreit. George Orwell beschrieb in seiner „Homage to Catalonia“, in der er die revolutionäre Situation von 1936 schilderte, etwas Ähnliches:

Many of the normal motives of civilized life – snobbishness, money grubbing, fear of the boss, etc. – had simply ceased to exist. […] [O]ne realized afterwards that one had been in contact with something strange and valuable. One had been in a community where hope was more normal than apathy or cynicism, where the word ’comrade’ stood for comradeship and not, as in most countries, for humbug. One had breathed the air of equality.5

Andererseits haben sich auf Anarres mit der Zeit neue Spielarten der Machtausübung herausgebildet. Es herrscht hoher Konformitätsdruck. Eine neue bürokratische Klasse hat sich etabliert, die eine subtile Version von Zensur ausübt und das geistige Leben erstickt. Die Kindererziehung empfinde ich als kollektivistischen Albtraum.

Durch die Ambiguität der anarresischen Ordnung fordert Le Guin die Leser*innen auf, sich selbst eine Meinung über dieses System zu bilden. Der Protagonist Shevek steht für diese kritische und fragende Haltung. Ohne eine solche individuelle Haltung kann auch keine wirklich freie Gesellschaft existieren — eine der wenigen eindeutigen Botschaften des Romans.

Urras

Die ungeraden urrasischen Kapitel drehen sich um die Vereinnahmung von Sheveks Forschung durch das kapitalistische und militärisch hochgerüstete A-Jo. Eine Inspirationsquelle für die Figur Shevek war das Schicksal des Physikers Robert Oppenheimer, den Le Guin persönlich kannte, weil er ein Freund ihrer Familie war. Oppenheimer leitete das „Manhattan-Projekt“, das die Atombombe entwickelte. Nach dem Zweite Weltkrieg erlebte er, wie sich seine Schöpfung verselbstständigte.

Auch Sheveks Forschung birgt das Potential, für militärische Zwecke eingesetzt zu werden. Für ihn, der von einem Himmelskörper stammt, auf dem Krieg überwunden ist, stellt dies eine schreckliche Vorstellung dar. Dennoch lässt er sich zeitweilig von den zweifellos existierenden Vorzügen von A-Jo bezaubern:

Wäsche, Bücher, Gemüse, Kleidung, Medikamente, alles wurde in viele Schichten verpackt. Selbst Papier wurde mit mehreren Schichten Papier umhüllt. Nichts durfte mit anderem in Berührung kommen. Er bekam allmählich das Gefühl, man habe auch ihn sorgfältig eingewickelt.6

Diese Betörung bleibt nicht bestehen: Zu stark ist Sheveks Schrecken, wenn er eine Gesellschaft erlebt, in der drastische politische und ökonomische Ungleichheiten toleriert und Gewalt und Grenzen verherrlicht werden. Le Guin beschreibt Sheveks Schrecken in eindringlicher Weise und hebt in diesen Momenten die Distanz zu ihrem Protagonisten auch sprachlich völlig auf: Sie teilt sein Entsetzen. Damit hält sie auch der Welt von 2020 einen Spiegel vor.

So offen der Roman konzipiert ist, so offen endet er auch. Die Gesellschaften sowohl in Anarres und Urras scheinen sich zu wandeln. Shevek teilt eine Technologie, die auf seiner Theorie beruht und die instantane Kommunikation zwischen beliebig entfernten Punkten erlaubt, mit allen bekannten Welten. Er lässt sich nicht vereinnahmen. Diese in unserer Wirklichkeit wohl unmögliche Technologie heißt im Buch Ansible.

Allerdings drückten Entwickler*innen ihre Wertschätzung gegenüber Le Guins Schaffen aus, indem sie ihre freie Software „Ansible“ nannten – ein Beispiel dafür, dass ihre Vorstellungskraft weiterhin unsere Wirklichkeit beeinflusst. Ohne klare Antworten zu geben, sucht Le Guins Werk einen Weg in die Zukunft, der ökologisch, freiheitlich und egalitär aussieht. Zugleich besticht ihre Literatur durch eine sehr klare, aber doch poetische Sprache. Deswegen empfehle ich Ursula K. Le Guin zu lesen.


Literatur

  1. Library of America (2018). Fellow writers remember Ursula K. Le Guin, 1929–2018. https://www.loa.org/news-and-views/1375-fellow-writers-remember-ursula-k-le-guin-1929-2018
  2. Le Guin UK (2006). Erdsee. 4 Romane in einem Band. München: Piper.
  3. Le Guin UK (2017). Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie. Frankfurt am Main: Fischer TOR.
  4. Le Guin UK (2017). Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie. Frankfurt am Main: Fischer TOR. S. 307.
  5. Orwell G (1938). Homage to Catalonia. http://gutenberg.net.au/ebooks02/0201111.txt
  6. Le Guin UK (2017). Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie. Frankfurt am Main: Fischer TOR. S. 220.