Science-Fiction gegen Raumfahrt

Kim Stanley Robinsons Roman „Aurora“ wagt etwas Unerhörtes: Science-Fiction fasziniert viele deshalb, weil sie sich häufig vorstellt, wie die Menschheit in der Zukunft das All erkundet. Dennoch hinterfragt Robinson in seinem Science-Fiction-Roman kritisch, ob die bemannte Raumfahrt überhaupt eine so gute Idee ist.

Inhalt

Generationenraumschiff Erde

In „Aurora“ bricht im 26. Jahrhundert ein Raumschiff aus unserem Sonnensystem Richtung Tau Ceti, einem 11,9 Lichtjahre entfernten Stern, auf. Das Ziel der Reisenden ist, einen Planeten oder Mond in der habitablen Zone – der potentiell für Leben geeigneten Zone – des Tau-Ceti-Systems zu besiedeln und zu terraformen. Das Raumschiff besteht deswegen aus Segmenten, die den Biomen der Erde – ihrer großen Ökoregionen – nachempfunden sind.

Die Distanz zwischen unserer Sonne und Tau Ceti zu überbrücken, erfordert im Buch eine 170 Jahre lange Reise. Das macht die Expedition zu einem Mehrgenerationenprojekt. Nur eine einzige Instanz erlebt die Reise in ihrer Gänze: die Künstliche Intelligenz (KI) des Raumschiffs. Sie erzählt deswegen die der Geschichte.

Die Hälfte der Erde, nicht nur ein winziger Bruchteil

Das Generationenschiff ist zwar groß, aber dennoch viele Größenordnungen kleiner als die Erde. Daher sind die Biome auf dem Schiff Miniaturausgaben ihrer Entsprechungen auf der Erde. Der Roman thematisiert damit, wie die Menschheit momentan die natürlichen Habitate von anderen Lebewesen verkleinert und voneinander trennt.

Mittels der Inselbiogeographie beschreibt Robinson die Auswirkungen dieses Vorgangs: Diese biologische Theorie hat gezeigt, dass auf Inseln eine geringere Artenvielfalt als auf dem größeren Festland vorherrscht. Überdies fällt die Artenvielfalt auf kleineren Inseln und Inseln, die durch ihre Entfernung vom Festland stärker abgeschnitten sind, nochmals geringer aus. Auf den voneinander isolierten Mini-Biomen des Raumschiffs reduziert sich deswegen mit der Zeit die Artenvielfalt drastisch: eine Beschreibung dessen, was gerade auf der Erde passiert.

Die Biome auf dem Schiff sind – gezwungenermaßen – künstlich geschaffene Naturräume. Obwohl die Menschen im Buch als erfindungsreich dargestellt werden, begreifen sie trotz ihres fortgeschrittenen Wissens immer noch nicht gänzlich, wie Ökosysteme funktionieren. Deswegen kommt es in den Biomen des Schiffs – milde ausgedrückt – zu Störungen.

Edward O. Wilson, einer der Begründer der Inselbiogeographie, hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, wie wenig wir bisher über Ökosysteme wissen. Er hält es für unrealistisch, dass die Menschheit die von ihr zerstörten Ökosysteme einfach wieder in ihren Ausgangszustand versetzen kann. Deshalb fordert der „Vater der Biodiversität“, wie Wilson manchmal genannt wird, mit diesen Zerstörungen sofort aufzuhören.

Stattdessen möchte er die Hälfte der Erde der Natur überlassen. Dadurch könnte man, informiert auch durch die Erkenntnisse der Inselbiogeographie, den weiteren dramatischen Rückgang der Artenvielfalt vermeiden.1 „Aurora“ zeigt mit den Mitteln der Literatur, wie sehr das Wohl der Menschheit von dieser Vielfalt abhängt.

Der Roman thematisiert in diesem Atemzug, dass sich die Nachkommen der ersten Raumfahrer*innen-Generation ihre Teilnahme an der Expedition nicht selbst ausgesucht haben. Ihr Leben auf dem Schiff geht mit deutlichen Einschränkungen ihrer Freiheit einher. Etwas ähnliches passiert momentan auf der Erde: Durch das Artensterben – ein fahrlässiges Experiment mit unserem Planeten – werden die Entfaltungsmöglichkeiten künftiger Generationen geschmälert. Der Roman stellt damit die Frage, ob der Überkonsum natürlicher Ressourcen tatsächlich menschliche Freiheiten vergrößert.

Das Raumschiff als Protagonistin

Die KI des Raumschiffs erlebt als einzige Instanz die ganze Reise mit. Sie ist die Erzählerin. Als solche verkörpert sie die Gruppe unerschrockener Entdecker*innen:

Und in einer isolierten Gruppe – es ließe sich sogar behaupten, in der isoliertesten Gruppe aller Zeiten, im Endeffekt einer Gruppe Schiffbrüchiger, auf ewig verschollen – ist es zweifellos wichtig, irgendwie die Gruppe selbst als Protagonisten in den Blick zu bekommen. Und auch ihre Infrastruktur, soweit sie von Bedeutung ist.2

Die Entscheidung, das Raumschiff selbst zur Hauptfigur zu machen, ist ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite fasziniert dieses erzählerische Experiment. Anfangs versucht die KI einen Erzählton zu finden und scheitert kläglich. Mit Hilfe der Ingenieurin Devi probiert sich das Schiff aus, bis es schließlich weiß, wie es die Geschichte erzählen will. Danach traut sich die KI des Schiffes, sogar in die Erzählung selbst einzugreifen – ein KI-Bildungsroman.

Anderseits bleiben alle anderen Charaktere außer der KI und Devi, die nur im ersten Teil auftritt, blass. Die KI neigt außerdem dazu, wissenschaftlichen Jargon zu verwenden, der nur mit Vorwissen zu verstehen ist. Manchmal ist dieser Jargon erzählerisch unnötig. Durch die geschwätzige KI fällt das Buch um einige Seiten zu lang aus.

Der Planet gegenseitiger Hilfe als Feind

Das SETI-Projekt, das (bisher vergeblich) nach Signalen außerirdischem intelligenten Leben sucht, begann 1960, als der Astronom Frank Drake ein Teleskop auf das Tau-Ceti-System richtete. Heute wird vor allem spekuliert, ob auf der Super-Erde Tau Ceti e die Bedingungen zur Entstehung von Leben gegeben sind. Durch seine große Masse und die entsprechend starke Schwerkraft wäre Tau Ceti e für Menschen aber ein unangenehmer Aufenthaltsort.

Deswegen erfindet Robinson den Mond Aurora mit einer erdähnlichen Masse, der Tau Ceti e umrundet. Diese Konstellation erinnert an Ursula K. Le Guins „Freie Geister“ aus dem Jahre 1974, das im Tau-Ceti-System auf einem fiktiven Planeten und seinem Mond Anarres spielt. Le Guin und Kim Stanley Robinson verbindet nicht nur eine ähnliche politische Haltung; Robinsons Werk ist nach eigener Aussage auch besonders stark von „Freie Geister“ beeinflusst.3

Allerdings gleichen Robinsons und Le Guins Mond sich kaum. Beide stellen sich zwar einen felsigen und unwirtlichen Mond vor, was mit den Vermutungen über die Geologie des realen Planeten Tau Ceti e übereinstimmt.4 Damit enden die Gemeinsamkeiten aber schon. Le Guins Anarres wird von menschenähnlichen Wesen bewohnt, die eine auf gegenseitige Hilfe beruhende Gesellschaft aufgebaut haben. Im Krisenfall bewährt sich diese Ordnung.

Dagegen scheint auf dem Mond Aurora keinerlei Leben zu existieren. Tatsächlich lebt aber ein für Menschen tödlicher kleiner Organismus auf Aurora. Die wissenschaftlich hochgebildeten Besucher*innen von der Erde erkennen ihn nicht, weil er ganz anders als das Leben auf der Erde aufgebaut ist. Damit behandelt der Roman ein spannendes Problem: Wäre die Menschheit immer in der Lage, Leben auf anderen Himmelskörpern zu erkennen?

Als der Organismus auf Aurora sein tödliches Werk beginnt, brechen „schlimme Zeiten“ an, wie Robinson formuliert. Chaotische Verhältnisse entstehen: Die gesellschaftliche Ordnung fällt in sich zusammen. Ihrem einzigen Ziel beraubt, lässt der feindliche Mond auch die Menschen zu Feinden werden.

Sinnlose Verschwendung

„Aurora“ stellt in Frage, ob die Kolonisierung fremder Himmelskörper durch den Menschen jemals realistisch sein wird. An schon belebte Planeten ist unser Immunsystem evolutionär nicht angepasst, was ihre Kolonisierung zu einer tödlichen Falle machen könnte. Unbelebte Planeten könnten unwirtliche Bedingungen bieten, die ein Terraforming-Projekt auch mit fortgeschrittener Technologie praktisch unmöglich gestalten.

Der Roman kritisiert außerdem die bemannte Raumfahrt als solche. Auf dem Generationenschiff – ein energetisch wie materiell geschlossenes System – nimmt die Entropie beständig zu. Obwohl die Raumfahrer*innen unglaublich findig sind, fliegt ihr Schiff mit der Zeit auseinander. Das Weltall ist ein denkbar ungeeigneter Raum für Menschen.

Auch viele Wissenschaftler*innen wie der Physiker Steven Weinberg lehnen die bemannte Raumfahrt ab. Er bemängelt, dass sie wissenschaftlich wertlos sei.5 Stattdessen ziehe sie öffentliche Mittel aus dem unbemannten Raumfahrtprogramm der NASA ab, ohne das wir viel weniger über unser Universum wüssten.

Diese Situation hat sich unter der derzeitigen unfähigen Regierung der USA nochmals verschärft. Auch die klimawissenschaftlichen Projekte der NASA stehen auf der Kippe. Wie wichtig sie sind, zeigt der NASA-Wissenschaftler Eric Rignot in einem Video sehr anschaulich.6 Die Regierung verschließt vor dieser wichtigen Forschung die Augen, während sie gleichzeitig größenwahnsinnige Pläne schmiedet, Menschen zum Mars zu schicken.

Die bemannte Raumfahrt bringt aber auch mich in eine Zwickmühle. Emotional bewegen und faszinieren mich die Landung auf dem Mond und die Internationale Raumstation. Rational lehne ich solche Projekte allerdings ab. Durch Science-Fiction kann ich diesen Zwiespalt auflösen: Sie erlaubt es unter anderem, sich fiktional mit dem Faszinosum bemannte Raumfahrt zu beschäftigen. Dadurch kann ich umso besser auf die tatsächlich stattfindende bemannte Raumfahrt verzichten.

„Science-Fiction als Realismus unserer Zeit“

Kim Stanley Robinson macht sich für eine Science-Fiction stark, die tief in unserer Wirklichkeit verankert ist. Seit den 1980er Jahren schreibt er immer wieder Climate Fiction, die sich literarisch mit dem Klimawandel auseinandersetzt. Die Historikerin Naomi Oreskes beschäftigt sich mit Wissenschaftsleugnung und sagt über Robinson:

Stan war, zumindest meines Wissens nach, einer der Ersten, der den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Klimaleugnung sah und das Thema in einem Roman verarbeitet hat. Ich finde es interessant, dass er in hohem Maße von der Wissenschaftsgeschichte beeinflusst ist. Vermutlich hat mich bei ihm vor allem beeindruckt, dass er die faktischen, wissenschaftlich bewiesenen Grenzen der Natur thematisiert und zugleich die kreativen Möglichkeiten des Romans nutzt.7

Diese Charakterisierung trifft auch auf „Aurora“ zu. Die Beschäftigung mit dem Klimawandel rückt in diesem Roman jedoch in den Hintergrund.

Obwohl sich der Roman mit aktuellen Themen beschäftigt, kann ich ihn aber nicht für Science-Fiction-Interessierte empfehlen: „Aurora“ ist deutlich zu lang und seine ausufernden technischen Beschreibungen werden vorhandene Klischees über Science-Fiction bestätigen. Auch mich frustrierten einige Stellen im Buch. Science-Fiction-Neulingen würde ich eher „New York 2140“ von Robinson empfehlen. Der viel zugänglichere Roman beschäftigt sich mit Klimafolgen und der letzten Finanzkrise. Alten SF-Hasen lege ich dagegen die Lektüre von „Aurora“ aufgrund seiner spannenden Konzepte ans Herz.


Literatur

  1. Wilson EO (2016). Half-Earth: Our Planet’s Fight for Life. New York: W. W. Norton.
  2. Robinson KS (2016). Aurora. München: Heyne, S. 103.
  3. Robinson KS (2019). Political legacy of Ursula K. Le Guin: Kim Stanley Robinson at the Interval. Long Now Foundation. https://www.youtube.com/watch?v=Atf7wvPmhjo
  4. NASA (2020). Exoplanet Exploration. Exoplanet Catalog: Tau Ceti e. https://exoplanets.nasa.gov/exoplanet-catalog/7179/tau-ceti-e/
  5. Weinberg S (2010). Opinion: Obama gets space funding right. University of Texas News. https://news.utexas.edu/2010/02/05/opinion-obama-gets-space-funding-right/
  6. Rignot E (2017). Watching the planet’s ice sheets disappear. Victoria University of Wellington. https://www.youtube.com/watch?v=WVEM1cgMc1s
  7. Oreskes N, Conway EM (2015). Vom Ende der Welt: Chronik eines angekündigten Untergangs. München: oekom, S. 93.