Brodecks Bericht oder die Menschlichkeit des Bösen

Der Roman Brodecks Bericht von Philippe Claudel ist vermutlich das ernsteste Buch, das mir jemals begegnet ist. Auf über 300 Seiten blicke ich in den Abgrund unseres menschlichen Wesens. Nichts an dieser Geschichte bereitet Freude. Vielleicht die beiden freundlichen Tiere, die den einsamen Reisenden durch eine angsterfüllte Welt begleiten. Doch auch diese ist nicht von Dauer. Die Angst hält mich von der ersten Seite an fest in ihrem Griff. Und dieses Mal ist es nicht der Alien und nicht der Untergang der Erde in einer kalten Finsternis, die sie auferstehen lassen. Dieses Mal sind wir es selbst – in unserem mühseligen Versuch, das Böse in uns zu zähmen.


Eins vorweg: Philippe Claudels Roman ist auch als Graphic Novel des französichen Comic-Autors Manuel Lancet erschienen. Eine wunderbare Ergänzung zu Claudels geschriebenem Werk. Manuel Lancet versteht es wie wohl kein anderer, die Fratze der Dorfgemeinschaft in seinen Zeichnungen zum Leben zu erwecken. Doch ich empfehle die Graphic Novel der ursprünglichen Erzählung hinterherzuschicken, verstehe sie eher als Erweiterung denn als Ersatz.

Es beginnt ganz harmlos… Nein. Tut es nicht! Ich heiße Brodeck und ich kann nichts dafür… Es ist kurz nach dem Krieg, vielleicht irgendwo im Elsass, vielleicht auch nicht. Das ist ohnehin nicht von Belang. Hier geht es nur darum, was zwischen den Menschen abläuft. Zwar hat es genau diese Konstellation von Macht und Unterdrückung in genau dieser Zeit in genau unserem Land gegeben und war sie in ihrer Widerwärtigkeit vermutlich eine der ausgeprägtesten in der ganzen Geschichte der Menschheit, doch ist auch sie nur eine Spielart der menschlichen Natur. Die genau so oder so ähnlich immer schon passieren konnte und auch immer wieder passieren kann. Deshalb ist das Beschriebene niemals explizit und genau dadurch wirkt es mit seiner ganzen präzisen Wucht. Es ist der Mesnch, um den es hier geht, am das, was ihm zutiefst eigen ist.

Die Männer des Dorfes haben sich abends im Gasthaus des Dorfes versammelt. Sie haben den einzigen Fremden, der seit einigen Wochen in einem der Zimmer im oberen Stockwerk wohnte, gemeinsam erschlagen. Brodeck, der schon zuhause gewesen war und nur noch etwas zu trinken holen wollte, betritt das Gasthaus, wird Zeuge und Protokollant der Ereignisse.

Anhand der Ereignisse in dem kleinen abgelegenen Dorf in den Hügeln der lieblichen Landschaft seziert Philippe Claudel das Böse im Menschen. Die Vergangenheit Brodecks, die Geschichte zweier Länder, die Gechichten von Unterdrückenden und Unterdrückten, von Schuld und Erinnerung, sie kulminieren auf den blutbefleckten Dielen des Dorfgasthauses und von dort aus beginnt meine Reise als Leser, wohl ahnend, dass dies keine fröhliche Spazierfahrt wird.

Hierbei wird nicht die Frage zum Gegenstand, wer böse ist und wer nicht, sondern die Frage, wie bringen wir das Böse in uns unter Kontrolle, das in jedem von uns darauf wartet, dass die Umstände es entfesseln.